Trotz des Zitterns an den Kapitalmärkten in diesem Sommer rechnen wir
mit einer vorsichtigen Normalisierung der Geldpolitik und einer anhaltend
robusten Weltkonjunktur. Unseres Erachtens birgt der Aktienmarkt immer noch
Aufwärtspotenzial. Das gilt besonders für zyklische Sektoren mit der Aussicht,
von der Wiedereröffnung der Wirtschaft zu profitieren
Wenn die
Zentralbanken
nun behutsam die
Normalisierung
der Geldpolitik in
Angriff nehmen,
bewegen sie sich auf
einem schmalen Grat. Eine Straffung
ist unausweichlich, darf aber nicht zu
früh und nicht zu schnell kommen.
Tatsächlich zeugte die Abflachung der US-Zinsstrukturkurve
in den USA im Juni von
der Angst, dass die US-Zentralbank (Fed)
die Geldpolitik zu schnell straffen und
damit die Konjunktur abwürgen könnte.
Diese Ängste sind jedoch übertrieben
und der Rückgang der langfristigen
Anleiherenditen dürfte ein
vorübergehendes Phänomen sein.
Die Kapitalmärkte befinden sich in einer
Übergangsphase zwischen der geld- und
haushaltspolitischen Ausnahmesituation
der letzten 18 Monate und der Rückkehr
zur Normalität.
Das Wirtschaftswachstum könnte zwar
in den USA seinen Höhepunkt erreichen,
wird aber wohl weltweit in der zweiten
Jahreshälfte anziehen, weil die Nachzügler
einen Wachstumsschub erleben. Nur
in China kühlt sich die Konjunktur nach
einer Straffung der Geldpolitik im früheren
Jahresverlauf ab. Eine weitere Drosselung
des Kreditwachstums in China ist jedoch
unwahrscheinlich. Allerdings wird die
bereits erfolgte Straffung die Konjunktur
noch mehrere Monate lang bremsen.
Zögerliche Schritte
Bis Mitte des Sommers 2022 wird
sich das BIP-Wachstum in den großen
Volkswirtschaften vermutlich wieder auf
rund 5 % eingependelt haben, was immer
noch ein hoher Wert ist. Der Konsum
wird stark bleiben, da die Haushalte
beginnen, die Ersparnisse auszugeben,
die sie während der Lockdowns
gebildet haben. Dabei wird sich die
Konjunkturdynamik von Produkten zu
Dienstleistungen verschieben. Alleine in
den USA haben die Haushalte seit März
2020 Sparüberschüsse in Höhe von
USD 2,6 Bio. aufgebaut.1
Um die steigende Nachfrage zu
bedienen, werden die Unternehmen die
Investitionsausgaben hochfahren müssen.
Derweil werden die USA die Staatsausgaben
weiter erhöhen,2 während die Europäische
Union (EU) ihren Aufbaufonds und ihr
Programm „Next Generation EU“ auf den
Weg bringen wird.3 In den USA könnte das
Wachstum gegenüber dem derzeitigen
hohen Niveau zurückgehen, aber eine
globale Rezession ist in absehbarer
Zukunft kaum zu erwarten.
Eine weitere Sorge lautet, dass die
Deltavariante des Coronavirus die
Wiedereröffnung der Wirtschaft verzögern
könnte. Doch angesichts steigender
Impfquoten schlägt sie sich bisher
nicht in den Krankenhauseinweisungen
und Todesfällen nieder. Das Vereinigte
Königreich ist der Testfall für andere
Länder, und dort driften die Neuinfektionen
und Sterbefallzahlen auseinander. Zudem
werden bis Ende 2021 zehn Milliarden
Impfdosen produziert,4 die genügen
werden, um bis Anfang 2022 den Großteil
der Weltbevölkerung zu schützen. Damit
sinkt die Gefahr weiterer Lockdowns.
Die Inflation wurde durch die Preise für
Gebrauchtwagen, Hotelübernachtungen
und Flugtickets in die Höhe getrieben.
Der Inflationssockel ist jedoch derzeit kein
Problem: In den USA beträgt der Index
der persönlichen Konsumausgaben im
Jahresvergleich lediglich 1,8 % und die
Breakeven-Inflationsrate der zehnjährigen Staatsanleihen 2,3 %, während der
Lohnzuwachsindikator (Wage Tracker)
der Zentralbank von Atlanta sinkt, was
bedeutet, dass die Preiserhöhungen nicht
auf die Löhne durchschlagen.5
Dennoch fahren die kleineren
Zentralbanken Norwegens, Kanadas und
des Vereinigten Königreichs bereits ihre
Anleihekäufe zurück6 und sprechen über
Zinserhöhungen. Die Fed verfolgt von allen
Zentralbanken den lockersten Kurs, denn
sie wird die Zinsen erst erhöhen, wenn am
Arbeitsmarkt Vollbeschäftigung herrscht.
Eine weltweit restriktivere Geldpolitik
führt nicht zwangsläufig zur Verschärfung
der wirtschaftlichen Bedingungen, da die
Haushaltspolitik locker bleiben wird. Der
Internationale Währungsfonds erwartet in
den höher entwickelten Volkswirtschaften
zwischen 2022 und 2026 zyklusbereinigte
Haushaltsdefizite von 2,6 %. Dem steht ein
Wert von 1,1 % für die Zeit von 2014 bis
zum Beginn der Pandemie gegenüber.7
Die Rückkehr der Reflationsthese
Was bedeutet also ein stärkeres
Wachstum der Weltwirtschaft in
den verbleibenden Monaten des
laufenden Jahres für die Kapitalmärkte?
Steigende Konsumausgaben und die
zunehmende Diskrepanz zwischen
hohen Gewinnen und stagnierenden
Bewertungskennzahlen verheißen Gutes
für die Aktienmarktentwicklung.
Dies
gilt besonders für zyklische Sektoren.
Seit dem Jahresbeginn wurden die
Gewinnprognosen für die bedeutendsten
Wirtschaftsräume insgesamt um 11 %
nach oben korrigiert. Das ist der höchste
bisher verzeichnete Wert.8 Trotz starker
Aktienmärkte gingen Rekordgewinne mit
sinkenden Kurs-Gewinn-Verhältnissen
einher. Die Gewinnprognosen sind für
Zykliker gestiegen, für defensive Aktien
dagegen gesunken. Dadurch hat sich
eine Gelegenheit zum Kauf zyklischer
Aktien eröffnet.
Europäische Aktien erscheinen relativ
vielversprechend, unter anderem weil
sie aufgrund ihrer kürzeren Duration
und des vergleichsweise geringen
Anteils an Wachstumswerten zu einer
Outperformance neigen, wenn die
Anleiherenditen steigen. Das Wachstum
der Unternehmensgewinne könnte in
Europa unsere derzeitige Prognose von
35 % übertreffen und Ende 2021 wieder
das Vorpandemieniveau erreichen.
Dies
wäre im Vergleich zu früheren Rezessionen
eine sehr kräftige Erholung. Nach der
globalen Finanzkrise dauerte es elf Jahre,
bis die Gewinne in Europa wieder so hoch
waren wie 2007. Als Covid-19 ausbrach,
übertrafen sie das Niveau von 2007
lediglich um 2 %.9 Doch nun prognostiziert
beispielsweise Goldman Sachs für Europa
ab 2023 einen jährlichen Gewinnanstieg
um 4 %, ein Wert, der sich sehr positiv von
den 0,1 % abhebt, die zwischen 2007 und
2019 zu verzeichnen waren.
All dies lässt darauf schließen, dass
die Wachstumsängste dieses Sommers
und deren Auswirkungen auf die Märkte
übertrieben sind. Ein Blick auf den Markt
sagt uns, dass die Sparquoten immer
noch hoch, die Unternehmensbilanzen
solide und die Immobilienmärkte in
guter Verfassung sind, während sich die
Arbeitsmarktlage verbessert. Zudem
erholen sich die Unternehmensgewinne
ebenso wie die Investitionsausgaben.
Die Investitionsprogramme im
Infrastrukturbereich sind ein enormer
Pluspunkt. Warum sollte sich die
Konjunktur also abkühlen?
Wir rechnen in den nächsten zwölf
Monaten mit einem ungebrochenen
Wachstum bei allmählicher Normalisierung
der Geld- und Haushaltspolitik. Aktien
werden dabei vermutlich trotz ihrer nicht
eben günstigen Preise Anleihen weiterhin
übertreffen.
Steigende Konsumausgaben und die zunehmende Diskrepanz zwischen hohen Gewinnen und stagnierenden Bewertungskennzahlen verheißen Gutes für die Aktienmarktentwicklung