Nach der Rezession, die 2020 durch den Schock der COVID-19-Pandemie ausgelöst wurde, hat die Weltkonjunktur
2021 wieder angezogen. Die Gewinnentwicklung hat die Prognosen übertroffen. Zudem besteht die Aussicht auf
eine Straffung der Geldpolitik, nachdem sich die Hoffnung auf ein baldiges Abflauen der Inflation nicht erfüllt
hat. Betrachtet man den gesamten Zeitraum der COVID-19-Pandemie, so stehen hohe Aktienrenditen niedrigen
Staatsanleiherenditen gegenüber. Unternehmensanleihen haben im Vergleich zu Staatsanleihen relativ gut
abgeschnitten und steigende Preise für Industriemetalle haben die Rohstoffrenditen in die Höhe getrieben (Abb. 1).
Aktienrenditen lassen sich in folgende Komponenten unterteilen:
Die Dividende, die Veränderung der erwarteten Ertragskraft und
die Veränderung der Zahlungsbereitschaft für ein bestimmtes
Maß an Ertragskraft (Bewertung). Erfahrungsgemäß hängen
die kurzfristigen Renditen vor allem vom letztgenannten Faktor
ab, während langfristig eher die Ertragskraft der Unternehmen
die maßgebliche Rolle spielt. Gewaltige Renditen durch rasant
steigende Kurse ohne erkennbare Veränderung der Ertragskraft
finde ich verstörend, während mich eine stark steigende
Ertragskraft, die vom Markt nicht belohnt wird, fasziniert.
Welches Bild ergibt sich also für die Corona-Zeit? In allen
bedeutenden Weltregionen mit Ausnahme der USA lag der
Anstieg der erwarteten Ertragskraft im mittleren bis oberen
einstelligen Bereich. In Amerika fiel die Wachstumsrate dagegen
etwa doppelt so hoch aus. Eine genauere Betrachtung zeigt,
dass die Performance der US-amerikanischen Substanzwerte
weitgehend der weltweiten Entwicklung entsprach und somit nur
die US-Wachstumswerte eine Ausnahmeerscheinung bilden.
Abb. 1: Annualisierte Renditen der einzelnen Anlageklassen 2020/21
Quelle: Bloomberg und Columbia Threadneedle, Stand: 13. Dezember 2021.
Vieles davon wird Ihnen bekannt vorkommen, denn es entspricht dem
Muster des Vorjahres, das in den meisten Teilen der Welt mit extrem hohen
Bewertungen und niedrigen Gewinnen endete. Anfang 2021 rechnete ich
mit einer kräftigen Erholung der Gewinne, aber auch mit einer erheblichen
Korrektur der Marktbewertungen. Auf einer ganzen Reihe von Märkten
lag ich damit richtig. So ging beispielsweise in Japan das (anhand der
Gewinnprognosen berechnete) Forward-KGV zwischen Dezember 2020
und November 2021 von 18x auf 14x zurück, was in diesem Zeitraum die
Aktienrenditen um 22 % schmälerte und die Gesamtrenditen in Lokalwährung
auf 10 % drückte, obwohl die Gewinnprognosen um 38 % stiegen. Das
Forward-KGV des japanischen Markts sank damit auf ein Niveau, das den
15-Jahres-Durchschnitt unterschreitet.
Das einzige bedeutende Segment des globalen Aktienmarkts, das 2021
nicht von einem zweistelligen Bewertungsrückgang betroffen war, sind die
US-amerikanischen Wachstumswerte (siehe Abb. 2). Das Forward-KGV
des gesamten US-Markts liegt um mehr als zwei Standardabweichungen
über dem 15-Jahres-Durchschnitt (siehe Abb. 3). Ich bin der Meinung,
dass die Bewertungen an den großen Märkten derzeit ungewöhnlich weit
auseinanderklaffen und generelle Aussagen darüber, ob Aktien billig oder
teuer erscheinen, daher noch weniger angebracht sind als sonst.
Hohe Bewertungen stellen zweifellos auf einigen Märkten mittelfristig einen
Hemmschuh für die Renditen dar. Diese Aktienbewertungsproblematik ist eine
der drei Hauptschwierigkeiten, mit denen die globalen Märkte konfrontiert sind
(soweit keine geopolitischen Verwerfungen auftreten). Die anderen sind der
vorübergehende oder dauerhafte Charakter der Inflation sowie die weiteren
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Wirtschaftsgeschehen.
All diese Faktoren sind miteinander verbunden.
Abb. 2: Aktienmarktrenditen vom 31. Dezember 2020 bis zum
30. November 2021 aufgeschlüsselt in ihre Bestandteile
Quelle: Bloomberg und Columbia Threadneedle, Stand: 13. Dezember 2021.
Abb. 3: Forward-KGVs verschiedener Aktienmärkte am
30. November 2021 im Vergleich zu den 15-Jahres-Werten
Quelle: Bloomberg und Columbia Threadneedle, Stand: 13. Dezember 2021.
Wie William Davies, Deputy Global CIO,1 und Adrian Hilton, Head of Global
Rates and Currency,2 an anderer Stelle erwähnt haben, rechnen wir 2022
mit einem Rückgang der Inflation. Das Rohstoffteam prognostiziert in seinen
Publikationen einen Anstieg des Ölpreises über die Marke von 100 USD im
Jahr 2022 und geht davon aus, dass die mit der Umstellung auf klimaneutrale
Technologien verbundene Nachfrage die Preise für Nichtedelmetalle weiter in
die Höhe treiben wird. Dieser Effekt dürfte in Verbindung mit dem anhaltenden
Aufwärtsdruck auf die Mieten und Löhne in allen Industrieländern genügen,
um zu verhindern, dass der Deflationsschub, der mit der Überwindung der
Lieferkettenblockade einhergeht, die Inflation zu stark nach unten treibt.
Doch die Aufgabe, einer galoppierenden Inflation Einhalt zu gebieten, wird den
Märkten und Zentralbanken weniger dringlich erscheinen. Daher haben wir
Verständnis (wenn auch keine Sympathien) für die miserablen Bewertungen
der Staatsanleihen, die einige wenige Zinserhöhungen im kommenden Jahr
vorwegnehmen.
Trotz der hohen absoluten Zahlen werden die Haushaltsdefizite der
Industriestaaten 2022 rund um den Globus sinken. Dies wird das
Wirtschaftswachstum bremsen. Die Konjunkturdynamik im Zuge der
Erholung von der Corona-Krise und die immer noch hohen Ersparnisse,
die in den letzten Jahren aufgebaut wurden, werden jedoch wohl ein
hinreichendes Gegengewicht zu den negativen haushalts- und geldpolitischen
Einflüssen bilden, um den Absturz in eine Rezession zu verhindern.
Das Wachstumstempo wird sich jedoch wahrscheinlich im Laufe des Jahres
verlangsamen.
Man könnte meinen, dass ein makroökonomisches Umfeld mit sinkender
Reflationsdynamik, das von negativen haushalts- und geldpolitischen
Einflüssen und hohen Rohstoffpreisen geprägt ist, den Unternehmen
schwierige Bedingungen für die Steigerung ihrer Gewinne bietet. Doch meine
Kollegen bei Columbia Threadneedle, die Bottom-up-Analysen von Aktien und
Anleihen durchführen, stehen im täglichen Austausch mit Unternehmen,
um sie mit Informationen für ihre detaillierten finanziellen Hochrechnungen
zu versorgen. In der Summe bieten diese Hochrechnungen meines Erachtens
die Aussicht, dass sich auf der Marktebene ein Gewinnwachstum in einer
Größenordnung von 10 % einstellen wird.
Wie lautet das Fazit? Offensichtlich besteht eindeutig das Risiko einer
Marktkorrektur, falls sich die Inflation dauerhaft als höher erweist, sodass
konzertierte Leitzinserhöhungen der Zentralbanken nötig werden, um
ihr Einhalt zu gebieten. Die größten Verlierer wären in einem solchen
Negativszenario wahrscheinlich Aktien und Anleihen mit langer Duration.
Wir räumen ein, dass beachtliche Unsicherheiten bestehen und die
Abwärtsbewegungen, die bei Abweichungen von unserem Hauptszenario
sinkender Inflationsraten drohen, erhebliche Ausmaße annehmen können.
Doch die soliden Gewinnaussichten und das Niedrigzinsumfeld rechtfertigen
die Bewertungen vieler Aktienmärkte und veranlassen mich, investiert zu
bleiben. Die Kombination aus einem bescheidenen Gewinnwachstum bei
moderaten Bewertungen auf manchen Märkten und einem strukturell hohen
Wachstum der Firmen, die das Wirtschaftsgefüge revolutionieren, dabei
aber auch anspruchsvolle Bewertungen aufweisen, bietet keine schlechten
Aussichten.